Dann mach's gut
Als ich ihn vom Bahnhof abgeholt habe, das letzte Mal
Spülte ihn der Strom der Reisenden in die Novembernacht
Ich erkannte ihn von weitem an dem wehenden Khmer-Schal
Ich lehnte am Kofferraum unseres alten Strichacht
Wir umarmten uns, klopften einander flüchtig auf den Rücken
Ich musste mich etwas strecken, er musste sich etwas bücken
„Hunger?“ fragt' ich, als sein Seesack krachend auf die Rückbank flog
Er nickte, ich holte uns zwei Laugenbrezeln und Kaffee
Und begann den alten, immer gleichen Elternmonolog:
Alles klar? Ja! Was gibt‘s neues? Nichts! Wie war die Fahrt? Okay
Er erinnerte mich so an diese kleinen wilden Tiere
Die in Birma, wenn der Regen kommt, ihre Winterquartiere
In den Häusern der Menschen suchen und ihnen, wie es heißt
Glück und Wohlstand bringen. Da saßen wir beide dicht an dicht
Ich am Steuer, er von ferne heimgekommen, weit gereist
Wir hatten doch alles, aber wir wussten es einfach nicht
Und als mich seine Einsilbigkeit schier zur Verzweiflung trieb
Dachte ich, mein Gott, wie hab ich diesen Haderlumpen lieb
Als ich ihn zum Bahnhof gebracht habe, das letzte Mal
Schulterte er seinen grünen Seesack, in der freien Hand
Hielt er ein großes Mitbringsel. Rauchend vor dem Wartesaal
Lehnte er mit einem Lächeln an der bekritzelten Wand
Er trug das rote Barett, das ihm betrunkene Soldaten
Mal geschenkt hatten. Er ging zum Zigarettenautomaten,
Und als er nach Münzen suchte, schob ich zwischen Reisepass
Tagebuch und Ticket heimlich einen Brief und einen Schein
„Pass gut auf dich auf, und grüß das Mädchen, und iss auch mal was!“
Stummes Nicken. Kinder können manchmal schrecklich wortkarg sein
„dann mach‘s gut!“ Und wir klopften einander flüchtig auf den Rücken
Ich musste mich etwas strecken, er musste sich etwas bücken
Und sein schwarzes Haar fiel in den Nacken auf gebräunte Haut
In die faltenlose Stirn. Aus seinen dunklen Augen floss
Ein Blick fern wie aus der Nacht der Zeiten und doch so vertraut
Und als sich die Waggontür lärmend zwischen uns beiden schloss
Sah ich ihn schemenhaft hinter der spiegelnden Scheibe stehn
Wir begreifen unser Glück erst, wenn wir es von draußen sehn
Wenn ich ihn vom Bahnhof abholen könnte noch einmal
Wollt‘ ich seinen schweren Seesack tragen und er wär mir leicht
Und ich deckte eine Tafel für ihn für ein Abendmahl
Wie es einem Königssohn gebührt und zur Ehre gereicht
Und ich wollte ihm den köstlichsten Wein von der Loire eingießen
Und Girlanden sollten wehen und alle Flüsse aufwärts fließen)
Wenn ich ihn vom Bahnhof abholen könnte nur noch einmal
Wollt' ich gern bei Tag und Nacht in Wind und Wetter wartend stehen
Könnt‘ ich irgendwann im Strom der Reisenden den roten Schal
Leuchtend und so wohlvertraut, schon in der Ferne wehen sehn
„Welcome home“ und wir klopften einander lachend auf den Rücken
Ich würde mich etwas strecken, er würde sich etwas bücken
Wenn er auftauchte noch einmal vor mir aus der Dämmerung
Hielt ich ihn mit beiden Armen fest, meine kostbare Fracht
Und der rostige Strichacht würde für ihn noch einmal jung
Und trüg ihn heim wie eine Sänfte aus 1000 und 1 Nacht
Ich wollte für immer warten vor der lausigen Bahnstation